Es war einmal ein Schulkind, das erwartungsfroh und in dem Wunsch, sich und die Welt zu entdecken, der Schule entgegenfieberte. So viel hatte es über die Schule gehört: Das Lesen und Schreiben würde es lernen, spannende Geschichten hören, Bilder malen, die Zahlen erforschen und, und, und.
Nach geradezu unerträglichen Momenten des Wartens war es schließlich soweit: Der Tag der Einschulung war gekommen, ein wunderbares Fest wurde gefeiert. Das Kind freute sich eher still. Es genoss die Stille. Es war bei sich. Immer schon. Und niemand störte sich daran.
Kurz vor den Herbstferien jedoch lud der Klassenlehrer die Eltern erstmals zum Gespräch ein und berichtete von seinen Sorgen: „Ihr Kind könnte ein Problem bekommen. Es muss sich dringend mehr beteiligen.“
Einige Jahre später… – Der Zauber des Schulanfangs war längst verflogen. Die Stille auch. Das letzte Zeugnis beschrieb eine deutlich bessere Unterrichtsbeteiligung. Die Eltern kamen seltener zum Gespräch. Nur das Kind spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Es hatte gelernt, sich Masken aufzusetzen und so zu tun, als ob. „So funktioniert also Leben…“, dachte es.
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Und so lebten wir ein Leben voller Angst…
Ich kenne aktuelle und ehemalige Schüler, deren Schul- und Lebensgeschichte massiv geprägt wird und wurde von der Angst, unaufgefordert zu einem Thema sprechen zu müssen. Menschen, die in der Nacht davon träumen, sich vor oder in einer Gruppe im wahrsten Sinne des Wortes entblößen zu müssen.
Menschen, die zwanzig Jahre nach Beendigung der eigenen Schulzeit als Eltern zum Elternabend gehen und aus Angst davor, aufgerufen zu werden, schweißnasse Hände bekommen.
Ich hörte von Lehrern, die in jeder Unterrichtsstunde in eine Strichliste eintragen, welcher Schüler sich wie oft meldet. Und am Ende der Unterrichtsstunde wird eine mündliche Note erteilt. So ein Vorhaben wird von etlichen Schulleitern als professionell gelobt, weil natürlich angesichts solcher Bedrohungen Ruhe herrscht.
Und zum Elternabend holen Pädagogen ihre Notenbücher heraus und sagen: „Hier steht es schwarz auf weiß!“ Was soll das? Es gibt Menschen, die sind ruhiger als andere. Wie wunderbar. Vielredner sind genauso „richtig“ wie Wenigredner.
In meinen Veranstaltungen entsteht gerade dann eine besondere Atmosphäre, Kreativität und Kraft, wenn sich unterschiedliche Menschen in ihrer Verschiedenheit nicht nur akzeptieren, sondern wollen. Immer herrscht Einigkeit darüber, dass wir alle davon profitieren, wenn sich Menschen in ihrer Einzigartigkeit zeigen dürfen, ohne falsch gemacht zu werden.
Und das bedeutet eben auch, sich beobachtend und in Stille zurückziehen zu dürfen. Während einige Teilnehmer von Beginn an nahezu jede Gesprächspause nutzen, um Gedanken in die Runde zu werfen, melden sich andere über Stunden gar nicht zu Wort.
Es gibt Teilnehmer, die aus dem Fenster schauen. Solche, die sich mit ihrem Sitznachbarn austauschen. Jene, die auf einem Blatt Papier herumkritzeln, kritisch nachfragen, ungefragt zur Toilette gehen, Kaugummi kauen, gähnen, einen Witz machen und zwischendurch sogar etwas trinken. Einfach so! Ist das nicht wunderbar?
Trotzkinder, unerreichbare Jugendliche, respektlose Schüler
Warum fällt es uns in der Schule insgesamt so schwer, jungen Menschen mit Respekt zu begegnen? Was ist das für eine Denkart, die uns veranlasst, junge Menschen ständig zu formatieren, zu kategorisieren, zu drangsalieren? Ständig sprechen wir von den respektlosen Schülern, von den unerreichbaren Jugendlichen, von den Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizit. Wir beschweren uns über Trotzkinder, tyrannische Kinder, Problemkinder.
Wir sehen unsere Schüler nicht, wie sie sind.
Wir sehen sie, wie wir sie sehen. Das ist ein Unterschied!
Mit einem Hammer in der Hand sieht alles aus wie ein Nagel. Und ich glaube tatsächlich – man möge mir das Folgende verzeihen -, dass unser verschultes Denken bisweilen ziemlich behämmert ist. Wir sind voll mit Bildern, Erwartungen, Überzeugungen, Vorurteilen und wir neigen dazu, unser Denken für absolut wahr zu halten.
„Ich glaube,“ sagte vor einiger Zeit eine Kollegin über einen Schüler, der unsere Schule besuchte, „der hat ein Raum- und Orientierungsproblem.“ Auf mein Nachfragen sagte sie, dass der Junge während des Schultages 3 x nach dem Weg zum WC fragte. Eine nette Geschichte vielleicht. Vielleicht aber auch nicht!
Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wir sehen sie, wie wir sie sehen. Unser Sehen entsteht aufgrund von Erfahrungen, die Spuren hinterlassen, auch Gedächtnisspuren genannt. Unser Gedächtnis reagiert auf Erlebnisse und stellt neue Verknüpfungen her, d.h. Erfahrungen nehmen Einfluss auf unsere Biologie. Nur 1 % von dem, was wir sehen, erreicht uns über die Netzhaut. 99 % von dem, was wir sehen, kommt aus unserem Gedächtnis.
„Der Himmel ist viereckig…“, sagte die Maus in der Kiste. Und was sagen wir Lehrer in den Klassenräumen? Wenn wir Lehrer die Idee Schule weiterentwickeln wollen, sollten wir uns neue Erfahrungen und Sichtweisen gönnen und möglicherweise viel Zeit außerhalb unserer Klassenräume verbringen. Denn solange wir in ihnen und in unseren Gedankengebäuden verharren und parallel zum hektischen Schulalltag neue Perspektiven entwickeln wollen, bleibt unser Himmel viereckig und der Schüler bleibt ein Problemschüler.
Andreas Reinke – INSPIRATION FÜR ELTERN UND PÄDAGOGEN